Gemeinsame Erklärung für eine humanitäre Asylpolitik

Rede der Stadtverordneten Madelaine Stahl in der Stadtverordnetenversammlung vom 29.09.2023
©Sabine Matzen

Sehr geehrte Damen und Herren, sehr geehrte Stadtverordnetenvorsteherin,

unser Grundgesetz besagt in Artikel 1, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Doch für wen gilt das? Und ab wo? Die Grenzen dessen, was sagbar ist, werden im öffentlichen Diskurs um Asylsuchende immer weiter nach rechts verschoben, und auch Landesregierungen, Bundesregierung und das EU-Parlament ringen um Kompromisse, wo es eigentlich keine geben dürfte. Der Wahlkampf verschiedener Bundesländer treibt hier ebenfalls mitunter seltsame Blüten, ganz unabhängig, um welche Partei es geht, werden hier Dinge geäußert, die mich doch überaus nachdenklich stimmen.

Und glauben sie mir, es ist ein Leichtes zu sagen, dass das alles grundsätzlich richtig ist, ABER nun mal an der Realität scheitere. Sagen Sie mir bitte: wer bestimmt über die Realität? Und wie kann man konkrete Einzelschicksale in abstrakte Zahlen packen, Entscheidungen

aufgrund von Statistiken treffen? Mein Eindruck ist, dass das Geld und Personal, was verwendet wird, um Menschen von einer Flucht in die sichere Festung Europa abzuhalten, allemal besser in der Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten, aber auch der politischen Bildung der Öffentlichkeit angelegt wäre.

Ich arbeite täglich mit geflüchteten Kindern und Jugendlichen und glauben Sie mir, einfach ist es nicht immer. Es sind junge Menschen mit unterschiedlichsten Persönlichkeiten, und manchmal geht es drunter und drüber. Aber die Vorstellung, dass ihre Kindheit und Jugend von ständiger Angst und Unsicherheit geprägt ist, sie in einem Camp unter unhygienischen, prekärsten Situationen ihr Dasein fristen, um anschließend zurück in ein Land geschickt zu werden, wo sie Verfolgung, schlimmster Armut und mitunter Krieg und Terror ausgesetzt sind, das lässt mich nicht mehr los, das macht mich fertig. Wir können diese Kinder, aber eben auch: Ihre Eltern, ihre Tanten, Onkel, Brüder nicht als abstrakte Zahlen sehen, sie haben Namen, ein Gesicht, eine Geschichte, Ängste, Wünsche und Träume wie Sie und ich.

Und Flucht ist beschwerlich, ich habe noch von keiner Person gehört, die die Gefahren auf einem Schlepperboot, und damit verbunden eine meist monatelange Flucht unter Todesgefahr auf sich genommen hat, dass jemand sein Leben riskiert hat, um in Deutschland in einem Asylbewerberheim zu wohnen, sich die Zähne machen zu lassen und sich von Nazis bedrohen zu lassen. Nein, diese Menschen haben in ihrer Heimat schlichtweg keine auch nur annähernd erträgliche Alternative. Hier schnelle Verfahren zu fordern und Menschen in unwürdigen Camps verrotten zu lassen widerspricht jeglichen Grundsätzen des Humanismus und übrigens auch einer christlichen Wertehaltung.

Meine Damen und Herren, unsere Werte, unsere Haltung und die daraus resultierende Verantwortung dürfen wir nicht an den Außengrenzen Europas abgeben. Dass hier eine Schieflage längst besteht wird durch die neuesten Beschlüsse nur einmal mehr offensichtlich. Wenn Forderungen nach Obergrenzen laut werden, man versucht, sich Hilfesuchender möglichst schnell zu entledigen, dann müssen wir dem entschieden entgegentreten. Ein Zustimmen zu der vorliegenden Erklärung scheint aus Marburger Perspektive einfach, ist doch für uns kein konkreter Handlungsauftrag damit verbunden. Umso wichtiger ist es, dass wir nicht nur unsere Werte benennen und Haltung zeigen, sondern auch und vor allem Verantwortung übernehmen, indem wir handeln: das heißt im Alltag, wenn wir mit Ansichten konfrontiert werden, die Asylsuchende degradieren und ihr Recht auf Asyl angezweifelt wird, aber eben auch im politischen Engagement. Der Einsatz für eine humane Asylpolitik ist immer auch ein Appell an unsere Vertreterinnen und Vertreter auf Landes-, Bundes- und Europaebene. Ich bitte Sie inständig, diesen Appell weiterzutragen an diejenigen, die Handlungsbefugnis in Asylangelegenheiten haben. Danke.

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