Ein Vertreterbegehren soll es nun richten!

Rede des Stadtverordneten Lukas Ramsaier in der Stadtverordnetenversammlung vom 23.06.2023

©Sabine Matzen

Sehr geehrter Herr Stadtverordnetenvorsteher,
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Sehr verehrte Damen und Herren,

„Dabei ist der Eindruck entstanden, dass durch zum Teil unvollständige Informationen, aus dem Zusammenhang gerissenen Einzelbetrachtungen und zum Teil falsche Interpretationen einzelner Sachverhalte, viel Unsicherheit und sogar Ängste entstanden sind“ – DAS, meine Damen und Herren, ist das Resümee der bürgerlichen Großfraktion dieses Hauses mit Hinblick auf die Berichterstattung und die Diskussionsportale des hiesigen Lokalblatts in den vergangenen Wochen. Diese Aussage kann ich so 1 zu 1 unterschreiben.

Umso verwunderlicher ist es aber, dass jene CDU, FDP und BFMler genau dieses Zusammenreißen aus dem Zusammenhang und jeden falschen Interpretationen kritisieren, dessen Urheber sie oftmals selbst waren und auch weiterhin sind.

Frau Suntheim-Pichler spricht bereits am 13. Juni im CDU-Blättchen „Marburg Kurier“ – also bereits BEVOR sich die Bürger*innen selbst ein Bild vom veröffentlichten Konzept machen konnten – davon, dass – Zitat – „für viele Gewerbetreibenden, Ärzte und andere Versorger dieses Konzept der Todesstoß sein kann“. Ja kein Wunder machen sich also Menschen Sorgen, wenn dieses völlig überzogene und wenig faktenbasierte Kommunikation das erste ist, was sie in der Zeitung oder im Internet von MoVe35 lesen. Kein älterer Mensch will, dass er nicht mehr zum Arzt oder zum Einkaufen kommt, das ist doch klar. Aber das steht ja auch so nicht in MoVe35 drin. Aber egal. Es passt eben in die Kommunikationsstrategie, die des deutschen liebsten Kind, das Auto, in seiner Überdominanz retten möchte.

Frau Suntheim-Pichler schafft es im neuesten „Sharepic“ der Bürgerlichen Fraktion sogar noch einen Draufzusetzen: Sie spricht von Marburg als „Versuchslabor grüner Ideologien“. Wow. Populistischer geht es ja nicht mehr!

Und es geht auch nach der Veröffentlichung des Endberichts GENAUSO weiter: Die bürgerliche Opposition arbeitet sich nun an dem neuen Fahrradstreifen in der Biegenstraße ab und behauptet einfach mal kackendreist, dass hier schon mit der Umsetzung von MoVe35 begonnen werden würde, bevor es überhaupt demokratisch beschlossen worden sei. Dass es sich bei dem Umbau um eine endlich angegangene Maßnahme aus dem Radverkehrsentwicklungsplan vom 2017 stammt, den die CDU selbst mitbeschlossen hat – Schwamm drüber. Die Empörung darf nicht abebben!

Kein Wunder sorgen sich also Marburger*innen, wenn ihnen eine solche Bastapolitik suggeriert wird. Sie melden sich übrigens auch bei uns und nicht nur beim selbsternannten Bürger*innenerhörer Jens Seipp, bei dem angeblich seit Wochen das Telefon vor Hilferufen nicht mehr stillsteht. Auch wir, Herr Seipp, bekommen Mails von Bürger*innen, die durch die – zumindest zu Beginn relativ einseitige Presseberichterstattung – den Eindruck bekommen haben, sie dürften zukünftig aus den Außenstadtteilen nicht mehr mit dem Auto, sondern nur noch mit dem Lastenrad zum Arzt ihres Vertrauens fahren.

Die CDU macht das politisch scheinbar clever: Sie schürt Ängste bei Bürger*innen, die sich gegenteilige Informationen noch gar nicht selbst besorgen können. Verkürzt, überspitzt und überdramatisiert das Ganze. Das Ergebnis: Verunsicherte Bürger*innen.

Oh Mist, stellt man nun fest, in Marburg scheint es viele wegen MoVe35 verunsicherte Bürger*innen zu geben, da brauchen wir ganz dringend einen Stop des MoVe35-Konzepts und eine neuaufzulegende Bürger*innenbeteiligung, um die verunsicherten Bürger*innen mitzunehmen. Man sollte also der CDU/FDP/BFM-Fraktion dankbar sein, dass sie sich der Sorgen und Nöte der Bürger*innen annimmt und mit einem Antrag im Parlament mehr Infoveranstaltungen fordert. Aber was, wenn sie diese Verunsicherungen mitunter selbst angezettelt hat? Und was, wenn die Koalition das Informationsbedürfnis selbst auf dem Schirm hat und Bürger*innenbeteiligungsformate vom 10. Bis 13. Juli ins Leben gerufen hat!?

Ja dann … dann muss man eben eins draufsetzen! Dringlichkeitsantrag, Pressemitteilung, Social Media Sharepics… für die große Aufmerksamkeitskanone! Ein Vertreterbegehren soll es nun richten! Auch hier in der Begründung wieder jede Menge steile, halbgare Aussagen. Zwei Beispiele:

Erstens: Zitat der Forderung: „Darlegung der vorauszusehenden Kosten um den Öffentlichen Nahverkehr auszubauen“. Liebe CDU, eigentlich sollten sie ganz genau wissen, dass der Themenkomplex ÖPNV deshalb nicht im MoVe35-Endbericht auftaucht, weil er in den neuen Nahverkehrsplan ausgelagert wurde. Zurecht, denn genau hier werden seit Jahren Fragen des Ausbaus von Linien, Takten etc. geklärt und geplant. Die Kostenfrage wird also dann aufkommen, wenn eben jener Nahverkehrsplan im September ins Parlament kommt. Frau Schaffner sitzt seit Jahren im Fahrgastbeirat und sollte das eigentlich wissen. Komisch, dass das dann trotzdem so fehlerhaft gefordert wird.

Zweitens: Zitat: „Wenn der Kfz-Verkehr halbiert werden soll, können die Bürgerinnen und Bürger eben nicht mehr mit dem Auto fahren“. Achso. Wenn 50% weniger Autos fahren, kann man GAR NICHT mehr Auto fahren. Ist klar. Mathe und Logik: Setzen, Sechs!

Mal unabhängig davon, dass schon die Grundthese nicht stimmt und zeigt, dass die Vertreter*innen der Bürgerlichen Fraktion offenbar den Endbericht gar nicht richtig gelesen haben. Nirgendwo steht das so konkret, dass der Autoverkehr in JEDEM Falle um 50% reduziert werden soll. Es geht um die Senkung des Anteils des Motorisierten Individualverkehrs – kurz: MIV – an allen zurückgelegten Wegen in der Stadt. Heute beträgt dieser Anteil nach Angaben der Planersocietät 42%. MoVe35 setzt sich zum Mindestziel diesen Anteil um 25% zu senken, also auf nur noch 32 % MIV-Anteil. Jedes dritte Verkehrsmittel in der Stadt wäre dann – einschließlich der Fußgänger*innen immer noch ein Auto – wie man da vom Tod der Autos in der Stadt schwadronieren kann, ist mir rätselhaft. Klar, dass MoVe35 auch die Senkung des MIV-Anteils um 50% auf 21% als Maximalziel ausgibt. Nur das zu kommunizieren, aber die Spanne von 25% bis 50% außen vor zu lassen, ist einfach. Und selbst wenn wir das mit den 50% tatsächlich schaffen, was zugegebenermaßen wirklich ambitioniert ist, dann ist immer noch jedes zweite Gefährt auf der Straße, wenn man den Fußverkehr aus der Rechnung rauslässt, ein Auto.

Es verbietet also niemand den Autoverkehr in der Stadt und es schafft ihn auch niemand ab! Die mobilitätseingeschränkte Oma aus Schröck, der Fließenleger aus Michelbach oder der Caterer aus Marburg – sie alle dürfen also auch weiter absolut berechtigte Mobilitätsanliegen mit dem Auto ausführen. Unsere Erfahrung der Grünen Fraktion zeigt: klärt man diese Sorgen faktenbasiert, dann beruhigen sich die Menschen auch schnell wieder und sind froh, auch einmal die andere Seite gehört zu haben. Warum sind wir dann gegen den Antrag? Gegen eine Beteiligung der Ortsbeiräte kann man doch nichts haben; diese können ja auch als Multiplikatoren dienen für jene Bürger*innen.

Nun gut, zum einen, weil es bereits eine umfassende Beteiligung der Ortsbeiräte gegeben hat. Sie brauchen keine zig weiteren Runden. Sie kennen das Konzept und wurden umfassenden angehört und einbezogen. Und anderseits, weil es der CDU eigentlich gar nicht um eine Beteiligung im eigentlichen Sinne geht! Es geht ihnen viel mehr darum, dass Projekt durch einen langen neuen Beteiligungsprozess zu verschleppen. Kurzfristig, damit sie sich ihrer Wahrnehmung nach weiterhin mit Hinblick auf die Landtagswahl mit dem Thema profilieren können und mittelfristig, damit möglichst vor einer neuen Kommunalwahl, dass Thema nicht durch ist, damit sie es selbst gleich wieder beerdigen können. Denn darum geht es der CDU eigentlich. Es geht ihnen nicht um verängstigte Bürger*innen oder Ortsbeiräte. Es geht ihnen wie so oft darum, dass sie mit Veränderungen in ihrem Alltag, die sie individuell betreffen, wenig anfangen können und sie deshalb verhindern wollen! Es gilt den Status Quo zu bewahren. Ein Kern konservativer Politik.

Es geht ihnen konkret darum, dass die richtigen Bürger*innen zu Wort kommen. Dass DIE, die etwas dagegen haben zu Wort kommen! Die CDU-Ortsbeiräte aus den Außenstadtteilen beispielsweise. Denn die … das sind „alteingesessene Marburger*innen“, die sich nicht von „Grünen Verkehrsideologen“ blenden lassen. Die CDU/FDP/ BFM baut ganz bewusst an diesem Narrativ, der „richtigen Marburger*innen“, die es einmal anzuhören gilt. Man spielt kommunikativ damit. Das zeigt das unsägliche Zitat von Michael Selinka aus den jüngsten, bereits vorher erwähnten Sharepics. Die Befürworter von MoVe35 sind demnach alle solche, die hier eh schnell wieder wegziehen und von denen sich die armen alteingesessenen Marburger*innen „nicht einfach alles von Ideologen überstülpen lassen wollen“. Dieses Zitat ist nicht nur eine Frechheit, weil Michael Selinka hiermit kürzer ansässigen Menschen wie Studierenden ihre demokratischen Mitbestimmungsrechts-Legitimation indirekt abspricht, sondern weil er eben auch verkennt, dass es viele alteingesessene Marburger*innen gibt, die sich aktiv für das Projekt und die Verkehrswende einsetzen – der hier im Saal sitzende Hans-Horst Althaus sei nur ein gutes Beispiele hierfür.

Und eben auch das hat die jüngste Berichterstattung und Debatte nicht zuletzt geschafft. Dass Menschen, die von anderer Seite kritisch waren, denen vieles in MoVe35 nicht weit genug geht, sich jetzt doch dafür stark machen, weil sie geschockt sind, wie groß schon der gesellschaftliche Gegenwind mancher bei den kleinsten Veränderungen des Mobilitätsverhaltens, wie einer neuen Einbahnstraßenregelung, sind, die ja eigentlich etwas Gutes im Sinne haben – die Rettung unseres Klimas, der Erde, der Bewahrung der Schöpfung – wie sie es auch wollen – eigentlich ja auch etwas Ur-christliches, stimmt’s Herr Althaus?

In diesem Sinne, lassen sie uns schauen, dass im Sinne ihres ersten Antrages, mehr Menschen mitgenommen und informiert werden. Viele sind auch schon mitgenommen worden. 3700 haben sich im Prozess an der Umfrage beteiligt, bei dem übrigens rauskam, dass 63% der Beteiligten Angestellte und Arbeiter waren. So viel dazu, dass sich nur die kurzwohnenden Studis bei MoVe35 einbringen konnten, Herr Selinka. Und auch war der Anteil der Autofahrer*innen an der Befragung höher als es ihrer eigentlichen MIV-Anteilsmäßigkeit am Verkehr im Marburg entspricht. Und trotzdem stand der große Anteil der Befragten beispielsweise hinter Forderungen nach mehr Radverkehrsflächen und einem ÖPNV-Angebot.

Welche Bürger*innen wollen sie denn jetzt noch mitnehmen? Wer ist hier unterrepräsentiert? Geht es vielleicht nicht um den Frust der IHK, dass sie in Marburg der Kommunalpolitik nicht mehr diktieren kann, was sie zu tun haben? Sind es nicht eher Herr Edelmann, Herr Ahrens und Co., die bei Ihnen anrufen, Herr Seipp?

Ich für meinen Teil kann nur abschließen mit den Worten. Lassen sie uns loslegen. Loslegen mit der Stadt für alle. Loslegen mit einer klimafreundichen Verkehrspolitik, in der die Oma mit dem Auto zum Arzt fahren kann, die Mutter mit dem Lastenrad sich sicher fühlen kann und der feiernde Student auch noch nachts um halb 3 sicher vom Feiern mit dem Bus auf den Stadtwald fahren kann. Und zwar jetzt! Also ab Juli. In diesem Sinne freue ich mich schon auf die nächste Sitzung.

Vielen Dank!

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