Rede von Madelaine Stahl in der Stadtverordnetenversammlung am 31.01.20
Gesellschaftliche Heterogenität ist natürlich; unglücklicherweise leben wir in einer Gesellschaft, die diese Heterogenität keineswegs begrüßt. Selbstverständlich ist es erfreulich, dass Demonstrationen wie #wirsindmehr in Marburg viele Leute auf die Straße bringen. Zugleich müssen wir trotzdem diejenigen im Blick behalten, von denen man sich damit abgrenzt. Ich werde nicht sagen, dass wir Verständnis aufbringen sollten für Menschen, die sich rassistisch und meist auch auf andere Weise diskriminierend äußern. Nachvollziehen sollten wir die Motive jener Menschen dennoch, und wir müssen, egal, wie schwer es oftmals fällt, ihnen zuhören, den Austausch aufrechterhalten und Wege zurück ins Gespräch finden. Nur so haben wir eine Chance, die Stimmungen in unserer Gesellschaft einzufangen und Vielfalt nicht als Kampfbegriff denen zu überlassen, die sie so sehr verhindern wollen.
Das vorliegende Konzept knüpft zum Teil bereits daran an; durch eine umfassende Zusammenarbeit mit freien Trägern sowie der Universität hat die Verwaltung die Grundlage für niedrigschwellige Angebote geschaffen, um demokratische Haltung sowie Antirassismus in unserer Gesellschaft zu stärken: Das begrüßen wir ausdrücklich. Zugleich erhoffen wir uns, dass das vorliegende Konzept einen Schwerpunkt da setzt, wo es besonders schwierig ist, den Kontakt herzustellen; bei den Abgehängten, bei den Kritiker*innen, bei denjenigen, die unsicher sind, vielleicht Angst haben, Angst vor einer verschärften Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, auf der Wohnungssuche, aber auch Angst aufgrund einer oftmals reißerischen Berichterstattung der Presse und rechten Anheizern in den sozialen Medien. Es ist eine große Herausforderung, hier zu differenzieren, und ja, es ist völlig richtig, auch hier Grenzen zu ziehen, denn wo Rassismus und Demokratiefeindlichkeit ideologische Grundpfeiler menschlichen Denkens und Handelns sind, ist kein Austausch möglich; aber an dieser Stelle muss man auch klar sagen: Wer despektierlich die russischstämmigen Mitbürger*innen vom Richtsberg über einen Kamm schert, wie man es heute der Zeitung entnehmen konnte, wer dort den Mangel an Integrität und demokratischem Selbstverständnis kritisiert, der hat vielleicht ein für sich ein Problem benannt, aber er hat auch einer großen Anzahl von Menschen, die eben genau diesem Klischee nicht entsprechen, vor den Kopf gestoßen; und lassen sie mich ergänzen: eine Lösung wurde dann immer noch nicht genannt, denn, so bitter es ist, es gibt keine einfache Lösung. Rechtsradikalismus ist und bleibt aber vor allem ein durch Deutsche starkgemachtes Problem, und Desintegration ist ebenso ihres, denn viele erschweren Teilhabe aktiv, und das nicht erst seit ein paar Jahren.
Um sich diskriminierenden Strukturen in unserer Gesellschaft anzunehmen, bedarf es eines langen Atems; es gehört dazu aber auch die Erkenntnis, dass nicht immer kurz- und mittelfristige Lösungen angeboten werden können. Das bei gleichzeitig klarer Haltung transparent zu vermitteln und vor allem zu erklären ist ein zentrales Anliegen; teils handelt es sich hier um die schiere Vermittlung von Fakten. An dieser Stelle möchte ich meine Hoffnungen in die Bürger*innenbeteiligung vor Ort setzen; ich wünsche mir, dass sie vor Ort durch Beteiligungsformate gerade diejenigen erreicht, die freiwillig nicht zu einem Erzählcafé oder ähnlichem kommen werden. Aber auch und gerade die zivilgesellschaftlichen Initiativen, welche in dem Konzept in den Mittelpunkt gestellt werden, sind unerlässlich, um einen Schritt nach dem anderen voranzukommen. Selbstverständlich ist es ebenso wichtig, Diskriminierung sichtbar zu machen und Betroffene zu vernetzen; denn selbst wenn wir Diskriminierung verringern können, so ist es doch absehbar, dass wir sie nie abschaffen können. Die strukturelle Benachteiligung von Menschen mit Migrationshintergrund muss daher konsequent Thema bleiben.
Das Konzept stellt den Versuch dar, sich einem überaus komplexen, kaum lösbaren Konflikt zu nähern; das allein ist Anerkennung wert, und wir sind gespannt, diesen Prozess weiterhin konstruktiv zu begleiten.

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