Rede des Stadtverordneten Lukas Ramsaier in der Stadtverordnetenversammlung vom 21.07.2023
Sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin,
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,
Sehr verehrte Damen und Herren,
Heute ist für Marburg ein schöner Tag. Nach einem jahrelangen Prozess mit vielen nervraubenden Onlinesitzungen, vielen langen Abenden, intensiven Diskussionen, engagierter Ehrenamtsarbeit und teilweise leider auch vielen unschönen Nebenkriegsschauplätzen ist es endlich soweit. Der Stadtverordnetenversammlung liegt das umfassende Mobilitätskonzept für die Zeit bis zum Jahr 2035 vor. Und ich bin froh darüber. Denn in den letzten drei Jahren mussten viele sinnvolle Maßnahmen wie neue Radwege oder Fußgängerüberquerungen nur allzu oft verschoben werden, weil man all das in ein größeres, maßnahmenzusammendenkendes Konzept integrieren wollte, um später wirklich ein stimmiges Verkehrskonzept in der Stadt vorzufinden, das ineinandergreift und in welchen die Maßnahmen zueinander passen.
Zeit also wird’s, dass wir vom heutigen Tag an Dinge endlich wieder entschiedener anpacken können. Und das ganz transparent für die Bürger*innen und nachvollziehbar – sowohl was Umsetzungszeit, Kosten und Umweltauswirkungen angeht. Ein riesiger Brocken, der uns hier heute vorgelegt wird und den wir alle erst einmal in seiner Ausführlichkeit und Komplexität durchdringen mussten.
Aber Kommunalpolitik ist eben nie einfach! Wir arbeiten uns nur zu oft durch 200-seitige Vorlagen, zahlenwülstige Haushalte oder etliche Stellungnahmen, um dann am Ende doch recht einfach mit „dafür“ oder „dagegen“ abzustimmen. Oft wird man dann von Kolleg*innen, Bekannten oder Freund*innen angesprochen, um was es gestern im Ausschuss denn eigentlich ging, oder was es beispielsweise mit MoVe35 auf sich hat. Die wenigsten dürften sich vermutlich freuen, wenn man sie als Antwort auf den hunderte Seiten langen Endbericht verweist.
Da hilft es manchmal einfache Bilder zu zeichnen oder auch nur Teilaspekte herauszugreifen, die einem besonders interessant und entscheidend erscheinen. Das ist nur allzu menschlich und verständlich.
Schwierig wird es aber, wenn Inhalte eines Planes nicht mehr nur vereinfacht werden, sondern verzerrt bis gar inhaltlich falsch dargestellt werden. Dies geschah aber zu meinem Bedauern in den letzten Wochen immer wieder. So beispielsweise auch in der Sitzung des Mobilitäts- und Bauausschusses diese Woche, als zum wiederholten Male ganz bewusst die Mär ins Plenum getragen wurde, wonach die arme Frau Klingelhöfer zukünftig ihre Torten mit dem Lastenrad übers Kopfsteinpflaster ausliefern müsse. Zur Wahrheit zählt: Es wird weniger Anwohner*innenparken im öffentlichen Raum im Südviertel geben mit MoVe35. Parkplätze sollen möglichst auf eine platzsparende Weise in Quartiersparkhäuser verlagert werden. Zudem wird es ein neues Einbahnstraßenkonzept im Südviertel geben, was im Zweifel vielleicht dazu führt, dass man erst eine Nebenstraße später in Richtung Universitätsstraße abbiegen kann. Nirgendwo steht, dass den örtlichen Einzelhändlern ihre Anlieferparkplätze weggenommen werden, nirgendwo steht, dass man nur noch mit Lastenrädern das Südviertel befahren dürfe.
Aber klar, solche Aussagen zünden. Bringen Klicks und Follower*innen auf Social Media, wo das Lastenrad nur allzu oft als Symbol grüner Verkehrsideologien abgespeist wird. Die bürgerliche Großfraktion schwimmt auf dieser Welle nicht nur gerne mit, sondern befeuert sie auch noch. So gründete beispielsweise ein Mitglied der CDU-Fraktion eine Gruppe auf Facebook in der sich unter dem Titel „Keine Geisterstadt Marburg. NEIN zu MoVe35“ Gegner*innen des heute vorgestellten Konzepts versammeln. Er selbst hält sich dabei wenig zurück mit Statements: Unter anderem wird Stadtrat Michael Kopatz als „Marburgs Umerzieher“ gebrandmarkt und die Frage in den Raum gestellt, ob er nicht bereits in Fanatische und Narzisstische abgedriftet sei. Ausgangspunkt: Michael Kopatz hat es gewagt vor dem Ortsbeirat zu erwähnen, dass er noch nie ein Auto besessen habe und auch bei schlechtem Wetter Fahrrad fahre. Ich weiß nicht ob wir hier Psycholog*innen im Raum haben, aber ihre Einschätzung zu dieser populistisch-psychologischen Laien-Diagnose würde mich mal interessieren.
Es muss einen nicht wundern, wenn auf solche steile Thesen, ebensolche Reaktionen folgen.
Aber diese Stimmung ist nützlich. Denn sie polarisiert und spaltet die Stadt in zwei Lager. Dieser einfache Dualismus – mit wenig Zwischenmeinungen – ist durchaus von Vorteil, wenn man schlussendlich auf einfache „Dagegen“ oder „Dafür“-Voten der Bürger*innen aus ist. Und DAS meine Damen und Herren, will die CDU. Eine einfaches Bürgervotum mit dem das gelingen soll, für das sie hier und heute im Parlament keine Mehrheit finden. MoVe35 zu stoppen! Einzig darum geht es.
Und nicht um eine andere oder tiefergehende Bürger*innenbeteiligung, wie es die bürgerliche Großopposition in diesem Hause immer wieder suggeriert hat. In all den vergangenen Wochen habe ich von der CDU/FDP/BFM noch nie einen einzigen inhaltlichen Verbesserungsvorschlag gehört. Weder inhaltlich noch organisatorisch. Man fand schlichtweg einfach immer alles doof, brachte aber – mit Ausnahme von Herrn Schäfer, der eine größere Berücksichtigung neuer Kfz-Antriebstechnologien forderte – keine eigenen Ideen ein. Seit der 50% MiV-Reduzierungs-Festlegung im Rahmen von MoVe35 habe man sich aus dem MoVe35-Prozess verabschiedet, so Jens Seipp zuletzt. Keine eigenen Verbesserungsvorschläge, wie eine klimafreundlichere Verkehrspolitik in Marburg umgesetzt werde könnte, sind seitdem mehr vernehmbar – bis auf den ollen Behringtunnel. Ein Bild das sich seit einigen Jahren durchzieht: Sie betonen stets für Klimaschutz zu sein, aber jede Maßnahme, die in diesem Sinne umgesetzt wird, ist ihnen eine zu viel. Ehrlich wäre es den Bürger*innen zu sagen, dass der Kampf gegen die menschengemacht Klimaerwärmungen eben nicht ohne Veränderung geht. Auch wenn dies heißt, dass einiges unbequemer für uns wird.
Aber mit der Wahrheit haben sie es ja auch nicht so genau, wenn sie den Bürger*innen weiß machen wollen, dass sie die Bürger*innen besser beteiligen wollen, was MoVe35 angeht und dass es Ihnen in Wahrheit eigentlich nur um eine ablehnende Abstimmung – und nicht um eine inhaltliche Verbesserung des Konzepts durch neue Ideen aus der Bürger*innenschaft geht. Wütende Bürger*innen dürfen beim eigens einberufenen CDU-Sonderparteitag und beim CDU-Wirtschaftsgipfel im Hotel Rosengarten brav mitklatschen und die Facebookbildchen liken – mehr hat man aber noch nicht an Beteiligungskonzepten vernommen. Im Gegenteil: Bestehende Beteiligungskonzepte wie der Infomarkt werden lediglich kritisiert, ohne Gegenkonzept. Der normale arbeitende Bürger können nicht unter der Woche zwischen 10 und 18 Uhr einen Infomarkt besuchen. Wie sie aber die Mitarbeiter*innen der Verwaltung auch noch am Wochenende und nach 18 Uhr dort motivieren wollen, über ihr Limit zu arbeiten, wird genauso wenig kommuniziert, wie jedwede Form von angeblich konstruktiveren Beteiligungsformaten.
Mit der Wahrheit will dagegen ich jetzt kommen. Und ich sage Ihnen ehrlich: Auch ich finde nicht alles super am MoVe35-Konzept. Ich hätte beispielsweise gerne eine Seilbahn auf die Lahnberge oder ein E-Bike-Verleihsystem darin gesehen. Aber das ist in Ordnung. MoVe35 ist kein Konzept der Koalition, sondern ein Ergebnis der fachlichen Experten eines Planungsbüros sowie eines breiten Bürger*innenbeteiligungskonzepts. Dann muss man damit leben, was dabei herauskommt. Auch Thomas Spies wird sicherlich nicht jede einzelne Maßnahme persönlich gut finden. Und das wird auch keiner der Bürger*innen – da dürfen wir uns nicht vormachen. Ich habe auch Verständnis, wenn ein Bürger sich ärgert, wenn er morgens im Regen vielleicht bald 100 Meter weiter zu seinem Auto laufen muss, oder wenn sich Radfahrer*innen gerne noch breitere Fahrradwege gewünscht hätten, um sich im hektischen Stadtverkehr sicherer zu fühlen. Aber es gibt eben auch viel Positives von MoVe35, was es zu betonen gilt. Ich würde mir wünschen, dass die Debatte in der Presse und in der Öffentlichkeit auch stärker einmal darauf abzielt, was man gewinnt – und nicht nur, was man möglicherweise verliert. Denn wir haben jede Menge, was wir gewinnen können. Eine verkehrsberuhigtere Innenstadt im Sinne der Menschen, die dort wohnen. Mehr Raum zum Bummeln und zum gemütlichen Einkaufen in der Kernstadt. Sicherere Wege für Fahrradfahrer*innen und Fußgänger*innen, einen verlässlichen Bustakt in die Außenstadtteile zu jeder Tageszeit oder mehr Platz für schattenspendende Bäume an heißen Tagen im Straßenraum.
In diesem Sinne! Lassen Sie uns Positivbotschaften fördern, Ängste ernst nehmen und den Menschen unsere alternativen Ideen und Pläne erklären … aber eben auch weiterhin zum Kerngedanken der Mobilitäts- und Klimawende zu stehen und mutige Maßnahmen ergreifen, die es dafür braucht.
In diesem Sinne. Auf MoVe35! Auf die Zukunft. Auf Marburg.
Vielen Dank!
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